Kein Märchen

Zum Welttag des Buches am 23. April

Antrittsvorlesung von Jacob Grimm zu seiner ersten Professur an der Universität Göttingen, 1830

„Ad Auspicia Professionis Philosophiae Ordinariae in Academia Georgia Augusta Rite Capienda Invitat. Inest hymnorum veteris ecclesiae XXVI. interpretatio theotisca nunc primum edita“

Halblederband mit rotem Sprenkelschnitt

26,5 x 21,5 cm

© Schloß Wernigerode, Inv.-Nr. Bi 1312

Im Hinblick auf den 1995 von der UNESCO zum alljährlichen „Welttag des Buches“ erklärten 23. April soll stellvertretend für die einst umfangreichen Bücherbestände von Schloss Wernigerode, die zu den bedeutendsten Privatbibliotheken Deutschlands zählten, eine Publikation vorgestellt werden, die erst kürzlich zurückerworben werden konnte. Es handelt sich um die gedruckte Antrittsvorlesung von Jacob Grimm (1785-1863) für seine erste Professur an der Georg-August-Universität in Göttingen. Zusammen mit seinem Bruder Wilhelm (1786-1859) ist er vor allem als Sammler und Herausgeber von Märchen und Sagen bekannt, doch gelten die Brüder Grimm auch als Gründungsväter der Germanistik, die sich bis heute als Wissenschaft der deutschen Sprache und Literatur versteht.

Der in Latein gehaltenen Vorlesung schließt sich der Erstdruck der „Murbacher Hymnen“, einer Sammlung von 27 lateinischen Gesängen mit deren wohl zu Beginn des 9. Jahrhunderts entstandenen altalemannischen Interlinearversion an, die zu den frühesten und bedeutendsten Zeugnissen der althochdeutschen Sprache zählt. Das Original wird heute in der Bodleian Library in Oxford aufbewahrt. Grimms Professur endete bereits 1837, als er sich zusammen mit sechs weiteren Kollegen („Göttinger Sieben“) gegen die Aufhebung der 1833 im Königreich Hannover eingeführten liberalen Verfassung wehrte und deshalb entlassen und des Landes verwiesen wurde. Gemeinsam mit seinem Bruder, der als Bibliothekar an der Universität gleichfalls seines Amtes enthoben wurde, ging er bald darauf nach Berlin.

Das antiquarisch zusammen mit 54 weiteren Büchern in 49 Titeln identischer Herkunft erworbene Exemplar trägt den Stempel „Fürstlich Stolberg. Bibliothek Wernigerode“. Es muss damit 1890 oder später versehen worden sein, als das bis dahin den Grafentitel führende Haus Stolberg-Wernigerode in den Fürstenstand erhoben wurde. Dadurch wird zugleich die Tatsache verdeutlicht, dass die insbesondere unter Graf Christian Ernst (1691-1771) zusammengetragene und bereits seit 1746 öffentliche Bibliothek, deren Schwerpunkte in den Bereichen Theologie und Kirchengeschichte lagen, auch in späteren Zeiten Zugänge erfuhr, die sich nicht nur auf zeitgenössische Publikationen beschränkten. Die über 6000 Bände umfassende Abteilung „Hymnologie“ wurde infolge der Wirtschaftskrise in den frühen 1930er Jahren verkauft, weshalb die Rückerwerbung dieses Konvoluts durch die Schloß Wernigerode GmbH als besonderer Glücksfall gelten kann. Sie konnte 2018 mit Unterstützung der Ostdeutschen Sparkassenstiftung und der Harzsparkasse, der Kulturstiftung der Länder sowie der Gesellschaft der Freunde von Schloß Wernigerode e.V. erfolgen.

Näheres zu diesem Objekt und anderen bereits digitalisierten Sammlungsbeständen erfahren Sie hier: https://st.museum-digital.de/index.php?t=objekt&oges=97910

Autor: Ulrich Feldhahn